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3. Traditionen
Der dritte Rahmen, der das Leben der muslimischen Frauen beeinflusst, sind die Traditionen – die gesellschaftlichen und kulturell bedingten Sitten und Gebräuche und auch die verschiedenen Einstellungen. Hier kommen wir in einen Bereich, in dem nicht immer klar unterschieden wird, was zur Tradition gehört und was zur Religion. Auch Muslime sind sich oft nicht darüber im Klaren, wo die Religion aufhört und wo die Tradition anfängt.
Es gibt unter Muslimen sehr schöne Traditionen: Gastfreundschaft, Respekt vor älteren Menschen, u.a.m. Aber es gibt eben auch schlechte Traditionen, wie z.B., dass bei der Erziehung der Kinder häufig ein Unterschied zwischen Jungen und Mädchen gemacht wird und Mädchen dadurch häufig benachteiligt werden.
Im Extremfall widersprechen diese Traditionen nicht nur dem Islam, sondern sind von ihm explizit verboten. In diesen Bereich fallen z.B. die erwähnten Ehrenmorde oder die Zwangsheirat. Leider wird dies oft nicht deutlich, wenn von solchen Fällen berichtet wird.
Ich konzentriere mich im folgenden vor allem auf den ersten Rahmen – Koran und Sunna – und dabei insbesondere auf den Koran. Im Anschluss möchte ich noch etwas zur Situation der muslimischen Frauen in Deutschland sagen. Das sind auch die Bereiche, in denen ich mich einigermaßen auskenne, denn über die Traditionen und Gesetze in den über 50 islamischen Ländern kann ich Ihnen nicht viel erzählen
III. Am Anfang waren Mann und Frau gleich: Die Entstehung des Menschen
Nach dem Koran wurde der Mensch als Paar erschaffen. Die Schöpfungsgeschichte des Menschen wird folgendermaßen dargestellt:
O ihr Menschen. Fürchtet euren Herrn, Der euch aus einem einzigen Wesen (nafs) geschaffen hat, aus ihm sein Partnerwesen (zaudsch) geschaffen hat und aus beiden viele Männer und Frauen sich vermehren ließ. (4:1)
Aus der koranischen Darstellung geht im Gegensatz zur Bibel nicht hervor, dass der erste Mensch ein Mann gewesen ist und erst danach seine Frau geschaffen wurde. Das Wort nafs (Wesen, Seele) ist grammatisch feminin, bezeichnet aber kein bestimmtes Geschlecht. Das Wort zaudsch, das hier mit Partnerwesen übersetzt wurde, ist grammatisch maskulin, bezeichnet aber ebenso wenig ein bestimmtes Geschlecht. Ginge man nach der Grammatik, hätte Gott also sogar erst ein weibliches und danach ein männliches Wesen erschaffen, aber das ist hier gar nicht die Frage um die es geht. Für den Koran ist es schlicht egal, ob zuerst der Mann oder die Frau da war, denn der Mensch ist von vorneherein als Paar angelegt. Das ist eine Eigenschaft der gesamten Schöpfung: Alles ist paarweise erschaffen: Preis sei Ihm, der alle Arten paarweise erschaffen hat, von dem, was die Erde wachsen lässt, und von ihnen selber und von dem, das sie nicht kennen. (36:36) Die beiden Geschlechter sind einander ergänzende Partner in einer harmonischen Schöpfung.
Es ist bedeutsam, dass mit diesem Vers die Sure An-Nisa (die Frauen) beginnt, die viele Ausführungen zu Frau und Familienleben enthält: Am Anfang wird erst mal grundsätzlich klargestellt, dass Männer und Frauen aus einem Wesen entstanden sind, und absolut gleichwertig sind.
Leider ist dieser Umstand vielen Koranübersetzern entgangen, denn sie übersetzen fast alle: „der euch aus einem einzigen Wesen erschuf, und aus ihm erschuf er seine Gattin.“ Hier ist das erste Wesen zu Adam geworden, und seine Gattin Eva (Hawa) wurde erst nach ihm erschaffen. Diese Übersetzung, die die Nachrangigkeit der Frau impliziert, wird der koranischen Aussage aber nicht gerecht. Die Tatsache, dass fast alle Übersetzungen diesen Fehler machen zeigt, wie schwer es für viele Übersetzer ist, sich von dem Vorverständnis, das sie mitbringen, zu lösen: Seit der Bibel wissen wir ja, dass erst der Mann und dann die Frau geschaffen wurde. Hier wird auch die Problematik vieler Koranübersetzungen deutlich, denn jede Übersetzung ist zugleich eine Interpretation, in die der eigene Hintergrund und das jeweilige Vorverständnis mit ein fließt.
Aber auch muslimische Kommentatoren haben den gleichen Fehler gemacht: Sie interpretierten diesen Vers unter Zuhilfenahme der Bibel und belegten damit, dass Adam zuerst und erst danach Eva - als Gattin für ihn - geschaffen wurde. Das ist ein erstes Beispiel für den Unterschied zwischen Text und Interpretation – ein Unterschied, der uns noch häufiger begegnen wird.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Bibel und Koran besteht in der Darstellung der Ereignisse im Paradies: Eva ist hier nicht die Schuldige, die Adam verführt hat. Der Koran benutzt im Bericht über den „Sündenfall“ den Dual, also eine grammatische Form, die von zwei Menschen spricht:
So verführte er (Satan) sie beide (Adam und Eva) durch Betrug. Und als sie von dem Baume gekostet hatten, wurde ihnen ihre Blöße bewusst. (...) Und ihr Herr rief sie beide: „Verbot ich euch nicht jenen Baum und sprach zu euch beiden: „Siehe, der Satan ist euch ein offenkundiger Feind? (7:22)
Adam und Eva begehen die Sünde gemeinsam, und jede/r ist nur für sich selbst verantwortlich. Sie bitten um Verzeihung, und Gott gewährt ihnen Seine Barmherzigkeit und verzeiht ihnen – der Grund, warum es im Islam kein Konzept der Erbsünde gibt.
In einem Ausspruch des Propheten heißt es: „Wahrlich die Frauen sind die schaqa’iq (Zwillingsschwestern oder Zwillingshälften) der Männer.“ Hier kommt sehr deutlich zum Ausdruck, dass es zwischen Männern und Frauen keinen Unterschied in ihrem Mensch-Sein und in ihrer Wertigkeit gibt. Gleichzeitig wird auch klar, dass Männer und Frauen zusammengehören, dass sie aufeinander angewiesen sind, und dass einer ohne den anderen nicht existieren kann. Ein Zwillingsgeschwister ist jemand, der einem sehr nahe steht.
An mehreren Stellen erwähnt der Koran explizit, dass Männer und Frauen den gleichen Lohn für ihre Taten erhalten, dass sie die gleichen religiösen Pflichten haben und ihnen – wenn sie gläubig sind – beiden das Paradies gewiss ist. Die Ebenbürtigkeit der Geschlechter zeigt sich in der Verantwortlichkeit für ihre Taten, am Jüngsten Tag wird jede/r nur für sich alleine einstehen müssen:
Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag. Ihr kommt (nur) zu, was sie verdient hat, und angelastet wird ihr (nur), was sie verdient hat. (2:286)
Siehe, die muslimischen Männer und Frauen, die gläubigen, die gehorsamen, die wahrhaftigen, standhaften, demütigen, almosenspendenden, fastenden, ihre Scham bedeckenden Männer und Frauen, Allah hat ihnen Verzeihung und gewaltigen Lohn bereitet. (33:35)
Und weiter: Und es antwortet ihnen ihr Herr: Siehe ich lasse nicht das Werk eines Wirkenden unter euch verloren gehen, sei es Mann oder Frau; die einen von euch sind von den andere. (3:193)
Wer aber Rechtes tut, sei es Mann oder Frau, und er ist gläubig – jene sollen ins Paradies eingehen. (4:123)
Damit wäre auch gleich die Frage geklärt, ob im Islam Frauen ins Paradies kommen können – es gibt da ja bis heute Gerüchte, dass dem nicht so wäre.
Vor diesem Hintergrund hat Albrecht Noth, Professor für Kultur und Geschichte der islamischen Welt in Hamburg, den Islam als die erste Religion angesehen, die die Gleichberechtigung der Frau als Gläubige realisiert hat.
Insgesamt lässt sich also feststellen, dass sich dem Koran keine Vorrangstellung oder Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau begründen lässt. Der Koran nennt vielmehr eine andere Eigenschaft als die des Geschlechts, die den Vorrang eines Menschen begründet: die Gottesfürchtigkeit:
Ihr Menschen! Gewiss, wir erschufen euch aus einem Männlichen und einem Weiblichen Wesen und machten euch zu Völkern und Stämmen, damit ihr euch kennen lernt. Gewiss, der Geehrteste von Euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. (49:13)
Gottesfürchtigkeit ist also der einzige Maßstab zur Profilierung, nicht Herkunft, sozialer Status, Bildung – oder Geschlecht.
Nachdem wir das alles gehört haben, stellt sich natürlich die Frage, wie die Brigitte dazu kommt, zu behaupten, im Islam wäre eine Frau halb soviel wert wie ein Mann.
Eine Regelung, die zu dieser Vermutung Anlass gegeben hat, ist die Erbschaftsteilung. Eine Tochter erbt die Hälfte von dem, was ein Sohn erbt. Der Grund dafür ist, dass Männer verpflichtet sind, mit ihrem Vermögen ihre Familien zu versorgen, während Frauen mit ihrem Vermögen tun und lassen können, was sie wollen. Weil der Mann mehr finanzielle Verpflichtungen hat, erbt er auch mehr. Der Sinn dieser Verteilung des Erbes ist es, Gerechtigkeit herzustellen. Wenn beide gleich viel erben würden, müssten auch beide die gleichen Verpflichtungen haben. Die Frau wird aber im Islam nicht verpflichtet, für den Unterhalt der Familie zu sorgen, weil sie die Aufgabe der Mutterschaft übernimmt. Im übrigen gilt dieses Verhältnis 2:1 nur bei dem Vergleich des Erbanteils von Söhnen und Töchtern. In anderen Fällen, z.B. wenn Mutter und Vater erben, ist es anders, und es gibt auch Fälle, in denen Frauen vom gleichen Verwandtschaftsgrad mehr erben als Männer. Daraus würde ja auch niemand ableiten, dass Frauen mehr wert sind als Männer.